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Tim und Struppi
Titelbild von "Kohle an Bord", 1958 (Ausschnitt)
Jahrhundert-Comic: Der brave Bursche mit der geschützten Haartolle
Hunderttausend heulende Höllenhunde! Kann es wirklich wahr sein, dass Tim und Struppi bereits 95 Jahre alt sind? So ist es: Am 10. Januar 1929 erschien in der Zeitschrift „Le Petit Vingtième“ die erste Folge von „Tintin“, des wohl einflussreichsten europäischen Comics.
Über einen Zeitraum von einem halben Jahrhundert erschienen insgesamt 24 Abenteuer des jungen Reporters und seines weißen Foxterriers. Generationen sind mit Tim, Kapitän Haddock, Professor Bienlein und Schulze & Schultze groß geworden. Tims geistiger Vater Hergé hat sich ihnen bis an sein Lebensende gewidmet; das letzte Abenteuer blieb unvollendet, als er 1983 starb.
Schon in der ersten Geschichte, die in der Jugendbeilage der Zeitung "Le Vingtième Siècle" in Fortsetzungen bis Mai 1930 erschien, sind einige Stärken der Reihe angedeutet, die „Tintin“ (so heißt das belgische Original) so einzigartig machen: subtiler Humor und Slapstick-Elemente, rasante Abenteuer, finstere Schurken, exotische Schauplätze, absurde Situationskomik und natürlich die berühmte „Ligne claire“, der klare Zeichenstil, der stilprägend wurde.
Belasteter Beginn
Aber Tintins Anfänge sind heute nur noch mit Vorsicht zu genießen. Die ersten drei Abenteuer triefen von stumpfen Klischees und dumpfen Vorurteilen; „Tim im Kongo“ (1930) ist sogar offen rassistisch. Hergé hat sich nur langsam von den negativen Einflüssen seines damaligen Umfelds und des Zeitgeists befreien können.
Spätestens mit seinem Meisterwerk „Der Blaue Lotos“ von 1934 hat Hergé aber jenes Niveau erreicht, das fortan alle Bände prägen sollte: Die Hintergründe und Schauplätze sind exzellent recherchiert, die Geschichten durchdacht und originell, die Zeichnungen realistisch bis ins Details (die absurde Komik blieb glücklicherweise erhalten!) und der Autor und sein Held stehen eindeutig auf der Seite der Schwachen und Unterdrückten. Auch für Historiker sind die Geschichten heute interessant, weil sie viel vom jeweiligen Zeitgeist einfangen. „Der blaue Lotos“ etwa erzählt mehr über japanischen Imperialismus und Chinas Hilflosigkeit in den 1930er Jahren als manches Proseminar.
Klare Kante
Hergé (1907–1983), bei Brüssel geboren, hieß eigentlich Georges Remi. Dreht man seine Initialen um und spricht sie französisch aus, erklärt sich sein Pseudonym. Kennzeichen seiner typischen „Ligne claire“ sind: Klarheit der Konturen, kaum Schatten, Einfarbigkeit größerer Flächen. Die Zeichnungen sind durchkomponiert und detailreich; alles wirkt aufgeräumt und wohlstrukturiert. Daher gelten die Tintin-Bände als grafische Meisterwerke; für Originalzeichnungen werden heute horrende Summen gezahlt.
Voller Erfindungsreichtum
Für Technik-Interessierte hat die Reihe viel Inspirierendes zu bieten. Dafür sorgt Balduin Bienlein, der schwerhörige, zerstreute, geniale Erfinder. Er entwickelt Mini-U-Boote, zerstörerische Ultraschallgeräte und sogar Mondraketen. In den beiden Bänden zu Tims Mondreise (1952/54), die etliche Jahre vor der Mondlandung von Neill Armstrong & Co. erschienen, spielt die bunte Rakete die Hauptrolle. Sie hat mit der späteren Saturn V nur die Länge gemein, ist aber ansonsten wesentlich praktischer (Hin- und Rückflug in einem Stück!) und vor allem komfortabler (es gibt bequeme Liegen, eine Küche und jede Menge Platz – auf all das mussten die echten Astronauten 1969 verzichten).
Bemerkenswert ist Bienleins Erläuterung des Raketenantriebs: „Er funktioniert wie eine Atombombe, die nicht auf einmal explodiert“. Eine solche Patentanmeldung würde man gerne einmal studieren.
Die Technik auf dem neuesten Stand – aber nicht die Hose
Hergé war (nicht nur) technisch stets up-to-date: Wenn er Abenteuer später neu auflegte, aktualisierte er sie, in dem er Autos, Flugzeuge oder Eisenbahnen an den jeweiligen Stand der Technik anpasste und etwa Propellermaschinen durch Düsenjets ersetzte. Aber obwohl sonst stets am Puls der Zeit, tauschte Hergé erst im letzten Band von 1976 Tims Zwanziger-Jahre-Knickerbocker-Hosen gegen braune Jeans aus.
Der Titelheld bleibt stets derselbe: ein ewiger Jüngling fast ohne Eigenschaften, ohne Familie, Geschichte, Leidenschaften, Laster. Für das Menschliche sorgen die Nebenfiguren: der saufende, fluchende Haddock, die tollpatschigen Detektive Schulze & Schultze, die eitle Diva Castafiore oder der aufdringliche Spießbürger Fridolin Kiesewetter.
Tim und die Schutzrechte
Die Geschichten wurden in über 80 Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit über 230 Millionen Mal. Ein so erfolgreiches Produkt ist natürlich markengeschützt: das französische Original „Tintin“ ist als EM-Wortmarke (000145151) und als Wort-Bildmarke (004084471) geschützt. Für den deutschsprachigen Raum hat sich der Verlag die Wortmarke „Tim und Struppi“ (998406, 3020100084553) für diverse Nizza-Klassen (16, 28, 38, 41) eintragen lassen. Auch „Captain Haddock” hat sich Hergés Rechtsnachfolger als EU-Wortmarke geschützt (001088608), ebenso die englischsprachigen Namen weiterer Protagonisten wie „Snowy“ (Struppi), „Thomson and Thompson“, „Professor Calculus“ (Bienlein). Auch Tims berühmte Haartolle wurde mehrfach als Wort-Bildmarke geschützt (001844521, 002329670). Selbst „Hergé“ ist als Wortmarke eingetragen (00585649). Hagel und Granaten!
Text: Dr. Jan Björn Potthast; Bilder: Carlsen Verlag, DPMAregister, Bernard Charlon/Getty Images
Stand: 09.04.2024
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