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Der Mechanismus von Antikythera
Die drei größten Fragmentstücke des Antikythera-Mechanismus im Nationalen Archäologischen Museum in Athen
Der „Ur-Computer“ - ein antikes Wunder der Technik
Frühjahr 1900 in der Ägäis: Vor der Küste der kleinen griechischen Insel Antikythera tauchen Männer nach Schwämmen. Sie dringen dabei in Tiefen von 50 Metern und mehr vor. Einer von ihnen, Ilias Stadiatis, kehrt von seinem Tauchgang mit dem bronzenen Arm einer antiken Statue zurück. Er hat ein uraltes Schiffswrack auf dem Meeresgrund gefunden.
Ein Jahr lang bringen die Schwammtaucher, die bald von der griechischen Marine unterstützt werden, zahlreiche Funde aus dem gesunkenen römischen Schiff an die Oberfläche. Die Bergungsaktion markiert den Beginn der Unterwasserarchäologie. Bei dem Wrack aus hellenistischer Zeit handelt es sich um eines der größten jemals gefundenen antiken Schiffe: es war über 50 Meter lang! Sein Untergang konnte durch die Entdeckung von Münzen aus Pergamon auf einen Zeitraum zwischen den Jahren 70 und 60 vor Christus datiert werden.
„Titanic der Antike“
Heute ist manchmal von der „Titanic der Antike“ die Rede, denn ein Schiff mit solch kostbarer Fracht aus dieser Zeit hat man bisher nicht nochmal gefunden. Herrliche Statuen heben die Taucher aus der Tiefe (oft leider in schlechtem Erhaltungszustand). Darunter wertvollste Bronzeplastiken (wie den sogenannten „ Jüngling von Antikythera“), von denen nur sehr wenige aus der Antike erhalten geblieben sind.
Unter den Schätzen aus dem Antikythera-Wrack, die ins Nationale Archäologische Museum in Athen gebracht werden, befindet sich auch ein kleiner Klumpen korrodierten Metalls mit Resten eines hölzernen Kastens, der zunächst niemanden interessiert. Vor 120 Jahren, am 20. Mai 1902, besucht Spyridon Stais, Kulturpolitiker und Cousin des Direktors, das Magazin des Museums. Er ist der erste, der dem mittlerweile zerfallenen Bronzebrocken mit der Inventarnummer X 15087 Beachtung schenkt. Stais entdeckt, dass es sich dabei um die Reste eines komplexen feinmechanischen Apparates handeln musste. Die lokalen Zeitungen berichten darüber ( mehr dazu (1,77 MB)).
Das Geheimnis der Bronzeklumpen
Zunächst nimmt man an, es handele sich um ein Astrolabium. Der Münchner Altphilologe Albert Rehm ist 1905 einer der ersten Wissenschaftler, der die bronzenen Fragmente (das größte davon misst 18 mal 15 Zentimeter) systematisch untersucht. Er vermutet an, dass es sich um eine Art Rechenmaschine handelt.
Mehr lässt sich aufgrund des Erhaltungszustands seinerzeit nicht aus den Metallklumpen ablesen. Es wird jahrzehntelang ruhig um den Fund. Erst in den 1950er Jahren befasst sich der britische Wissenschaftshistoriker Derek de Solla Price wieder intensiv mit den insgesamt 82 Bruchstücken. Er lässt sie mit Röntgen- und Gammastrahlen durchleuchten und gewinnt bahnbrechende Erkenntnisse: Verborgene Zahnräder, Inschriften und Getriebereste werden sichtbar.
"Wie ein Düsenjet in Tutenchamuns Grab"
Für Price ist das Fragment ein „antiker Computer“. Er sorgt dafür, dass der Mechanismus weltweit bekannt wird und zieht spektakuläre Vergleiche: So einen Mechanismus in einem römischen Wrack zu entdecken, sei „als wenn man beim Öffnen einer Pyramide eine Atombombe vorfinde“. Oder: „Als würde man einen Düsenjet im Tutenchamuns Grab entdecken“.
Der Mechanismus von Antikythera stammt aus dem späten 2. Jahrhundert v. Chr. und ist das bei weitem ausgeklügelste Gerät, das aus der Antike bekannt ist. Der Bronzeklumpen war einst ein Apparat auf einem technischen Niveau, das man Römern und Griechen bis dahin nicht zugetraut hatte. Tatsächlich brauchte die Menschheit danach mehr als eineinhalb Jahrtausende, um diesen Stand der Technik annähernd wieder zu erreichen.
Der Apparat aus dem Wrack war einst ein komplexer mechanischer "Computer", der die Zyklen des Sonnensystems und astronomische Phänomen bestimmte. Mit ihm ließen sich die Bewegungen der von der Erde aus sichtbaren Himmelskörper darstellen. So verfügte er zum Beispiel über einen Finsterniskalender zur Anzeige von vergangenen und künftigen Sonnen- und Mondfinsternissen. Der Mechanismus bündelte das gesamte astronomische Wissen der alten Griechen und der Babylonier; er ist quasi eine Enzyklopädie der Astronomie der damaligen Zeit. Außerdem stellt er eine unerhörte mathematische und ingenieurwissenschaftliche Meisterleistung dar.
Mit modernster Technik das antike Wunder erforschen
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Wissenschaft intensiv mit dem Mechanismus auseinandergesetzt. Nach Price setzten u.a. Forscher wie Michael Wright und Tony Freeth jeweils die modernsten Durchleuchtungsgeräte wie Computertomographen ein, um den Bronzeklumpen weitere Geheimisse zu entlocken.
In manchen neuen Patentanmeldungen in diesem Bereich findet sich explizit der Hinweis auf ihre Einsatzmöglichkeit bei der Durchleuchtung von Objekten wie dem Antikythera-Mechanismus, siehe „Röntgenstrahlenquelle, Hochspannungsgenerator, Elektronenstrahlenkanone, rotierende Targetanordnung“ ( EP 2 973 640 B1 (1,09 MB)).
Mit den neuen Methoden konnten weitere Zahnräder (30 sind erhalten) und Bauteile im Inneren der Fragmente sichtbar gemacht und neue Aufschlüsse über ihre Anordnung gewonnen werden. Dank Spezialkameras und einer aus der Computerspieltechnik stammenden Software zur Oberflächenmodellierung vervielfachte sich außerdem die lesbare Menge des eingravierten griechischen Textes.
Was der Apparat alles anzeigen konnte
Der Mechanismus war ursprünglich etwa so groß wie ein dickes Buch, mit Inschriften versehen und besaß eine Kurbel an der Seite. Er hatte 3 Hauptzifferblätter, eines auf der Vorderseite und zwei auf der Rückseite. Das vordere Zifferblatt war ein Sonnenkalender mit Tages- und Monatsskala (Ägyptische Monatsnamen) und Babylonischen Tierkreiszeichen. Darin befand sich ein zweites Zifferblatt mit den griechischen Sternzeichen, das beweglich war, um Schaltjahre ausgleichen zu können. Das Zifferblatt hatte wahrscheinlich drei Zeiger, einen für das Datum und zwei weitere für die Positionen von Sonne und Mond. Es enthielt darüber hinaus auch einen zweiten Mechanismus mit einem sphärischen Modell des Mondes, das seine Phase anzeigte, also ein gebundener Mondkalender.
Die Inschriften auf der Vorderseite des Apparates verweisen auf die Planeten Mars und Venus. Man vermutet, dass der Mechanismus die Positionen aller fünf den Griechen bekannten Planeten anzeigen konnte. Er war wohl also auch ein tragbares Planetarium. Darüber hinaus bot das vordere Zifferblatt ein Parapegma, mit dem der Auf- und Untergang bestimmter Sterne angezeigt wird.
Analoger Computer
Das obere der beiden spiralförmigen Zifferblätter auf der Rückseite zeigte die 235 Monate des 19-jährigen Meton-Zyklus an. An einem kleineren Hilfszifferblatt darin ließ sich die 76-jährige Kallippos-Periode ablesen. Das untere hintere Zifferblatt bildete mit 223 Unterteilungen den Saros-Finsternis-Zyklus ab. Es verfügte auch über ein kleineres Nebenzifferblatt, das den 54jährigen Exeligmos-Zyklus anzeigte.
Und schließlich gab es einen Olympiaden-Kalender für den Vierjahreszeitraum zwischen den Olympischen Spielen, in dem regelmäßig weitere Wettkämpfe, die Panhellenischen Spiele, stattfanden, deren Orte ebenfalls angezeigt wurden.
Mehrfach wurde versucht, den Mechanismus nachzubauen. Die meisten Modelle sind mittlerweile aufgrund der neuen Forschungserkenntnisse überholt. Vor einigen Jahren ließ sich der Ingenieur Theodor Sartoros sein Modell beim DPMA patentieren: „Mechanismus von Antikythera mit Planetarium, Kalender und (elektrisch oder hydraulisch) betriebener Uhr“ ( DE 10 2010 015 501 B4 (1,64 MB)).
Ein Werk des Archimedes?
Wie aber hieß das Genie, das dieses technische Wunderwerk vor rund 2200 Jahren erschaffen hat? Lange vermutete man, der Mechanismus stamme aus Rhodos, wo Hipparchos lebte (ca 190 - 120 v. Chr.). Der Geograph und Mathematiker gilt als einer der größten Astronomen der Antike; er entwickelte u.a. ein quantitatives geometrisches Modell für die Anomalie der Mondbewegung. Der Mechanismus enthielt eine mechanische Umsetzung dieses Modells.
Andererseits sind die Monatsnamen des Mondkalenders auf dem Mechanismus in korinthischem Griechisch gehalten, was ein Hinweis darauf ist, dass der Apparat aus Korinth oder einer seiner ehemaligen Kolonien stammen könnte, etwa aus Syrakus. Dort lebte der große Archimedes (um 287 bis 212 v. Chr.), von dem überliefert ist, dass er ein Sphärenmodell konstruiert hat.
Bis heute inspiriert der Mechanismus Erfinder, etwa den Anmelder von DE102008034718A1 (1,06 MB), der sein „Gnomonisches Messgerät“ (einen analogen Positionsbestimmer) „Apolytarios“ nennt, nach der Südspitze Antikytheras, wo der Apparat gefunden wurde.
Noch viele Fragen offen
Wofür der aufwändige und teure Apparat genau angefertigt wurde, ist auch nach über einem Jahrhundert Forschung letztlich unklar. Die Vorhersage von Himmelsphänomen konnte damals den Herrschenden zur spirituellen Untermauerung ihrer Machtansprüche nützlich sein. Seefahrer wären für ein solches Instrument bei der Navigation sicher dankbar gewesen. Professionellen Astronomen dürfte der Mechanismus eine wertvolle Hilfe gewesen, noch mehr aber interessierten und zahlungskräftigen Laien. Man hat mittlerweile herausgefunden, dass die Inschriften auf der Vorderseite praktisch einer Gebrauchsanweisung gleichkommen. Gut möglich, dass der Mechanismus einem sehr reichen Bürger gehörte. Ein Hightech-Gadget für antike Millionäre mit Interesse an den Sternen?
Das Wrack von Antikythera wird auch über ein Jahrhundert nach seiner Entdeckung noch weiter erforscht. Der berühmte Jaques Cousteau unternahm in den 1950er und 1970er Jahren Expeditionen zum Schiff. 2012 starte das griechische Kultusministerium eine neue Kampagne, die immer noch läuft und weitere spannende Funde erbrachte: Keramikgefäße, Öllampen, Goldschmuck, Silber- und Bronzemünzen, Bronzestatuetten, feine Glasobjekte, Elemente von Marmorskulpturen und sogar menschliche Skelettreste, von denen man sich wichtige Erkenntnisse erwartet. Man hofft sogar darauf, weitere Teile des Mechanismus zu finden. Die Erforschung des Wracks und des Mechanismus von Antikythera ist jedenfalls noch lange nicht zu Ende. Zuletzt meldeten Forscher in der Zeitschrift "Nature" weitere Fortschritte bei der Rekonstruktion des Apparats.
- Link zum Forschungsprojekt: Antikythera Mechanism Research Project
Text: Dr. Jan Björn Potthast; Bilder: Nationales Archäologisches Museum Athen (NAMA) Joy_of_Museum_via Wikimedia Commons, via Wikimedia Commons, NAMA Athen K. Xenikakis - Copyright Hellenic Ministry of Culture and Sports, via Wikimedia Commons, Mogi Vicentini CC BY-SA 3.0 Wikimedia Commons, via Wikimedia Commons, Hellenisches Ministerium für Kultur und Sport
Stand: 09.04.2024
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