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Lise Meitner
Otto Hahn und Lise Meitner in ihrem Labor
Die übergangene Pionierin
In der Geschichte der Nobelpreise gab es immer wieder umstrittene Entscheidungen. Eines der größten Versäumnisse der Akademie ist, dass sie Lise Meitner bei der Preisvergabe immer wieder ignoriert hat – trotz 48 Nominierungen!
Lise Meitner, die vor 140 Jahren geboren wurde und vor 50 Jahren starb, war eine geniale Wissenschaftlerin, die zeitlebens gegen Diskriminierung kämpfen musste: als Frau in der männerdominierten Naturwissenschaft, als Kind jüdischer Eltern in Nazi-Deutschland, als Flüchtling im Exil. Dass Otto Hahn 1945 den Chemie-Nobelpreis alleine erhielt, hängt eng damit zusammen.
Es war die größte akademische Ungerechtigkeit, die Lise Meitner widerfuhr. Und eine der schwersten Fehlentscheidungen der Nobelpreis-Jury – die sie noch dazu jahrzehntelange aufrechterhielt! Denn es war nicht Otto Hahn allein, der 1938 die Kernspaltung entdeckt hatte. Diese epochale Entdeckung war Teamarbeit. Es war Luise Meitner, die Hahns Experimente und Beobachtungen anregte, theoretisch begleitete und schließlich richtig deutete. Sie lieferte die erste wissenschaftliche Erklärung des Zerfalls von Uran-Atomkernen unter Neutronenbeschuss, den sich Hahn zunächst gar nicht hatte erklären können.
Von der geduldeten Gasthörerin zur Professorin
Meitner und Hahn waren fast 30 Jahre lang ein Team gewesen. Seit sie 1907 aus Wien nach Berlin gekommen war, arbeiteten beide gemeinsam am Kaiser-Wilhelm-Institut. Anfangs durfte sie nur inoffiziell an Max Plancks Vorlesungen teilnehmen (Studentinnen wurden in Preußen erst 1909 zugelassen) und ihre Arbeitsräume nur heimlich durch die Hintertür betreten.
Zwei Jahrzehnte später waren Meitner und Hahn Professoren, leiteten jeweils eine Abteilung im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem, waren anerkannte Größen ihres Fachs und ein wissenschaftliches Gespann auf Augenhöhe, das auf viele Erfolge in der Forschung zurückblicken konnte. So hatten die beiden zum Beispiel 1909 zusammen den radioaktiven Rückstoß bei der Aussendung von Alpha-Strahlen und 1918 das Element Protactinium entdeckt. 1913 meldete Meitner die Herstellung von Radiothorium zum Patent an (allerdings in den USA; US1076141A).
Gegen alle Widerstände
Lise Meitner, geboren am 7. November 1878 in Wien, war eine Pionierin: Sie war die zweite Frau, die in Wien promoviert wurde. Die erste Frau, die als Assistentin an der Universität in Berlin arbeiten durfte. Die erste Frau, die sich in Deutschland habilitieren durfte. Und sie war die erste Frau, die hier eine Professur für Physik erhielt.
„Die Radioaktivität und Atomphysik waren damals in einer unglaublich raschen Fortentwicklung; fast jeder Monat brachte ein wunderbares, überraschendes, neues Ergebnis in einem der auf diesen Gebieten arbeitenden Laboratorien“, erinnerte Meitner sich später.
Gemeinsam mit dem Chemiker Fritz Straßmann bildeten Hahn und Meitner seit 1934 eine Arbeitsgruppe, die – inspiriert von Enrico Fermis Experimenten und angestachelt von Irene Curies Fortschritten – an „Transuranen“ forschte und Urankerne mit Neutronen beschoss.
Kurz vor dem Durchbruch musste Meitner fliehen
In der spannendsten Phase der Experimente musste Lise Meitner flüchten. Bereits nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 hatte sie auf ihre Professur verzichten müssen, konnte aber unter dem Schutz ihrer österreichischen Staatsbürgerschaft zunächst im Institut weiterarbeiten. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland entfiel dieser. Wenige Wochen später, am 13. Juni 1938, verließ Lise Meitner fast ohne jegliche Vorbereitungen Berlin, nur mit zwei Koffern in den Händen. In Schweden fand sie als Flüchtling Aufnahme. Ein schwieriger Neuanfang mit fast 60 Jahren.
Hahn und Straßmann forschten alleine weiter, aber Hahn blieb in engem geheimen Briefkontakt mit Meitner. Der Tisch mit dem Versuchsaufbau, der zur ersten Kernspaltung führte, ist übrigens heute im Deutschen Museum in München zu sehen.
Hahn und Straßmann machten bei ihren Experimenten eine Beobachtung, die sie sich nicht erklären konnten. „Es ist nämlich etwas bei den ‚Radiumisotopen‘, was so merkwürdig ist, daß wir es vorerst nur Dir sagen“, schrieb Hahn am 19. Dezember 1938 an Lise Meitner. „Es könnte noch ein höchst merkwürdiger Zufall vorliegen. Aber immer mehr kommen wir zu dem schrecklichen Schluß: unsere Ra(dium)-Isotope verhalten sich nicht wie Ra(dium), sondern wie Ba(rium). Ich habe mit Straßmann verabredet, daß wir vorerst nur Dir dies sagen wollen. Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen. Wir wissen dabei selbst, daß es eigentlich nicht in Ba zerplatzen kann.“
Meitner deutete, was Hahn sich nicht erklären konnte
Meitner traf sich kurz darauf mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch, der in Kopenhagen an Niels Bohrs Institut arbeitete. Auf langen Spaziergängen suchten sie eine kernphysikalische Erklärung für Hahns Experiment. Nach Albert Einsteins berühmter Formel zur Umwandlungsfähigkeit von Masse in Energie E = mc2 berechneten sie, wieviel Energie bei der Kernspaltung freigesetzt wird, nämlich etwa 200 Millionen Elektronenvolt. Wenige Tage später schrieb Meitner an Hahn: „Ich bin jetzt ziemlich sicher, daß Ihr wirklich eine Zertrümmerung zum Ba(rium) habt.“
Im Januar 1939 erschien Hahns und Straßmanns Artikel über ihre Beobachtungen in der Zeitschrift "Die Naturwissenschaften". Kurz darauf veröffentlichten Meitner und Frisch ihre Interpretation in der englischen "Nature". Die beiden Artikel elektrisierten Forscher weltweit; man stürzte sich in weitere Forschungen. Das Team um Irene Curie in Paris fand schnell heraus, dass aufgrund zusätzlich frei werdender Neutronen auch eine Kettenreaktion denkbar wäre. 1943 wurde Meitner von den USA eingeladen, in Los Alamos am „Manhattan“-Projekt zur Entwicklung der Atombombe teilzunehmen, doch die überzeugte Pazifistin sagte ab. Zwei Jahre später wurde die erste Atombombe abgeworfen.
Von allen Größen der Physik nominiert
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erhielt Otto Hahn alleine den Nobelpreis, während Meitner, Straßmann und Frisch außen vor blieben. Immerhin schlug Otto Hahn Meitner (und Frisch) 1948 für den Preis vor.
Lise Meitner war sage und schreibe 48 Mal für den Nobelpreis nominiert (in Physik und in Chemie). Fast alles, was Rang und Namen hat, schlug sie vor: Max Planck (der sie nicht weniger als sieben Mal nominierte!), James Franck, Niels Bohr, Max Born und viele andere.
Schon 1924 hatte Heinrich Goldschmidt vorgeschlagen, dass Meitner und Hahn gemeinsam den Nobelpreis für Chemie erhalten sollten. Werner Heisenberg hatte 1937 Meitner und Hahn gemeinsam für den Physik-Nobelpreis nominiert. Allerdings als zweite Wahl: An erste Stelle setzte Heisenberg Enrico Fermi, der den Preis dann 1938 tatsächlich bekam. Im gleichen Jahr schlug auch Max von Laue vor, dass Meitner und Hahn sich den Preis teilen sollten.
Bekommen hat sie ihn nie. Aber sie bekam…. den „Otto-Hahn-Preis“ (1955).
Später Ruhm
Als im Oktober 2018 bekannt gegeben wurde, dass Donna Strickland als erste Frau seit 1963 (Maria Goeppert-Mayer) den Nobelpreis für Physik erhält, wurde oft daran erinnert, dass das Komitee in der Vergangenheit mehrfach Forscherinnen übergangen und an ihrer Stelle Männer ausgezeichnet hatte, die von deren Forschungen profitierten.
Neben Meitner ist Rosalind Franklin ein prominentes und tragisches Beispiel für übergangene Frauen: James Watson und Francis Crick benutzten ihre Forschungsergebnisse zur DNA hinter ihrem Rücken für eigene Publikationen und erhielten 1962 gemeinsam mit Franklins Kollegen Maurice Wilkins den Nobelpreis. Franklins entscheidende Vorarbeit wurde mit keinem Wort gewürdigt. Ob sie das ebenso stoisch hingenommen hätte wie Meitner, ist fraglich; Franklin war bereits 1958 gestorben.
Obwohl Lise Meitner in Schweden nie richtig glücklich wurde, blieb sie dort bis wenige Jahre vor ihrem Tod, als sie nach Cambridge umzog. Dort starb sie am 27. Oktober 1968, kurz nach Hahn.
Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Lise Meitner endlich im öffentlichen Bewusstsein die verdiente Anerkennung erhalten: Straßen und Schulen wurden ebenso nach ihr benannt wie Preise, Elemente und Asteroiden.
Text: Dr. Jan Björn Potthast; Bilder: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft/MPIC, Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Deutsches Museum, Archiv MPG, Helmholtz Zentrum Berlin
Stand: 13.11.2024
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