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Dr. Heidemarie Seidel
„'Wer sich nicht wehrt, muss zurück an den Herd' - diesen Plakataufruf hatte ich Anfang Dezember 1989 gesehen. So kam es, dass ich den 'Unabhängigen Frauenverband' in Berlin mit gegründet und mich später auch im DPMA für die Belange von berufstätigen Frauen eingesetzt habe.“
Ehemals Patentprüferin im AfEP und DPMA
DPMA:Als Lebensmitteltechnologin haben Sie gerne im Amt für Erfindungs- und Patentwesen gearbeitet?
Heidi Seidel:Ja. Das AfEP war, anders als das Deutsche Patentamt, dem Ministerium für Wissenschaft und Technik (MWT) unterstellt. Im Amt gab es die Abteilung "Wissenschaftlich-technische Studien (WTS)". Hier haben wir zum Beispiel aus der aktuellen Patentliteratur Analysen und Trendeinschätzungen erarbeitet, um dem MWT damit Entscheidungshilfen für die Vergabe von Fördermitteln an Forschungseinrichtungen und Betriebe zu geben. So habe ich zum Beispiel an Patentstudien zu synthetischen Aromastoffen, Enzymen und Konservierungsverfahren für die Lebensmittelproduktion gearbeitet.
DPMA:Wie haben Sie dann die Zeit 1989/90 erlebt?
Heidi Seidel:Das waren schon sehr aufregende Zeiten. Der Mauerfall – Donnerstag, 9. November 1989: Noch am Tag danach verlangte unser Hauptabteilungsleiter in einer eilig einberufenen Abteilungsversammlung, dass wir anzeigen, wenn wir am Wochenende im Westteil Berlins waren - was allerdings keiner ernst nahm oder befolgte. Wir gingen weiter unserer gewohnten Arbeit nach, natürlich mit der Sorge – wie lange noch, wie wird es weitergehen? Mitte 1990 wurde klar, dass es eine Zusammenführung der beiden deutschen Ämter geben würde. Ich machte mir dennoch große Sorgen – eine solche Abteilung wie die meine gab es ja im DPA nicht. Die Lebensmittelindustrie der DDR war völlig veraltet. Wo, noch dazu mit Mitte 40, eine neue Arbeitsstelle finden? Ich hätte auch als Pförtnerin gearbeitet, um meinen Arbeitsplatz zu behalten. Schließlich musste ich allein für zwei Kinder sorgen.
DPMA:Sorgen in beruflicher Hinsicht hatten Sie bereits kennengelernt.
Heidi Seidel:Oh ja. Anfang der siebziger Jahre konnte ich ein halbjähriges Zusatzstudium an der Universität Helsinki absolvieren. Dort lernte ich unter anderem eine Familie kennen, der ich mich sehr verbunden fühlte und mit der ich einen herzlichen, regen Briefkontakt hielt. Die Aufforderung Mitte der 1970er Jahre, Westkontakte zu unterlassen, nahm ich nicht so ernst und schwärmte meinen musikliebenden Finnen in einem weiteren Brief von einem tollen Konzerterlebnis in Berlin vor. Dieser und der rasche Antwortbrief wurden abgefangen.
Ich durfte von heute auf morgen zwar noch ins AfEP, aber nicht mehr arbeiten. War ich plötzlich ein Feind? Eine bereits bestätigte Gehaltserhöhung und eine Leistungsprämie wurden "eingefroren". Ich wurde immer wieder ins Leiterzimmer einbestellt, mein "Fehlverhalten" - der Kontakt zur finnischen Familie - wurde mir vorgeworfen und ich sollte mich rechtfertigen. Auch in einer Außenstelle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wurde ich verhört. Schließlich sollte ich "in der sozialistischen Produktion geläutert werden". Der „verordnete Betrieb", der Milchhof Berlin, schickte mich aber zurück ins Amt, weil ich damals schwanger war und weder Nachtschichten noch körperlich schwere Arbeit verrichten durfte. So "durfte" ich letztlich im Amt bleiben und wurde fortan für Verwaltungstätigkeiten eingesetzt. Das bedeutete auch weitere finanzielle Einbußen.
Später habe ich erfahren, dass wohl ein Exempel statuiert werden sollte: Alle sollten sehen, was passiert, wenn man Kontakte ins "Nichtsozialistische Währungsgebiet (NSW)" unterhielt. Erst 1979, nach meiner Elternzeit, durfte ich auf meinen alten Arbeitsplatz zurück. Versuche, eine andere Arbeitsstelle zu finden, liefen gut an, scheiterten aber alle ganz plötzlich, wenn die neue Arbeitsstelle meine Personalakte eingesehen hatte.
DPMA:Hatten Sie Bedenken, dass es wegen dieser Geschichte Probleme für Sie geben könnte beim Zusammenschluss der beiden deutschen Ämter?
Heidi Seidel:Es fanden verschiedene Evalierungsgespräche statt. Diese wurden offen und sachlich geführt. Hier konnte ich erstmals meine eigene Personalakte einsehen. In meinem Falle allerdings reagierten die Gesprächsführenden aus München verwundert, weil meine Akte trotz langer Amtszugehörigkeit so dünn war: Haben wir hier einen weiblichen "IM" (inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit) erwischt? Zu meinem Glück waren in meiner "gefledderten Akte" noch Papierreste von ausgerissenen Seiten. So konnte ich beweisen und erklären, was tatsächlich vorgefallen – und was daraus entstanden war.
DPMA:Sie gingen dann auch nach München?
Heidi Seidel:Ja, aber zunächst absolvierte ich noch in Berlin, als endgültig feststand, dass meine frühere Arbeit nicht fortgeführt werden wird, eine Prüferausbildung im Bereich Landtechnik. Für den Wechsel nach München musste ich eine Bedingung stellen: weil ich keinerlei familiäre Unterstützung hatte, konnte ich nur zusammen mit meinen Söhnen und, wenn möglich, zu Schuljahresbeginn antreten. So kam ich Anfang Oktober 1993 nach München. Für mich war zu diesem Zeitpunkt leider keine passende Prüferstelle frei, aber ich wurde sehr herzlich in der Hauptabteilung 2, Abteilung 2.2 (IPC-Revision, Breitstellung von Prüfstoff) aufgenommen und ich konnte später in die Abteilung 1.11 (Klassifikationsabteilung) und dann in die Abteilung 1.23 (Landtechnik, allgemeine Verfahrenstechnik, Lebensmitteltechnologie) wechseln, wo ich bis zum Ende meiner Berufsjahre blieb.
DPMA:War die Arbeit als Patentprüferin im DPA anders im Vergleich zu früher?
Heidi Seidel:Nein – es waren da gar nicht so große Unterschiede. Allenfalls im Arbeitsablauf: Wir hatten im AfEP nur eine einzige Prüfstoffsammlung für alle. Also hieß es: Zum Recherchieren marschierten wir treppauf, treppab zu den jeweiligen Prüfstoff-Ablage-Räumen, stiegen auf Leitern, um an die Prüfstoffmappen zu gelangen und saßen stets zu mehreren in engen Rechercheräumen ...
In München staunten wir natürlich am Anfang: Jeder hatte seinen eigenen, für ihn relevanten Papierprüfstoff und einschlägige Fachliteratur in seinem Einzel-Büro. Und - es gab Kolleginnen, die den Prüfstoff einsortierten, Boten, die neue Akten brachten, getane Arbeiten abholten. Aber wir haben uns im DPA München "eingefuchst" und nur im Stillen über den Zuwachs an Bürokratie geschmunzelt. Dass man das AfEP darin noch übertreffen könnte, konnten wir uns früher gar nicht vorstellen.
DPMA:Sie waren von 1994 bis 2011 auch stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte im DPMA. Wie kam es dazu?
Heidi Seidel:Da schließt sich der Kreis zu meinem Engagement im "Unabhängigen Frauenverband Berlin" in der Wendezeit. Anfang Dezember 1989 folgte ich dem Gründungsaufruf „Wer sich nicht wehrt, muss zurück an den Herd." Ich war bei den ersten "Rund–Tisch-Gesprächen" beteiligt und kandidierte auch für die ersten freien Wahlen im März 1990. Deshalb war es mir ein Anliegen, mich auch im DPMA für die Belange von berufstätigen Frauen einzusetzen.
Im AfEP gab es zwar zumindest im Mitarbeiterbereich mit rund 50 Prozent Prüferinnen einen deutlich höheren Frauenanteil als im DPA. Im DPA waren zum Zeitpunkt meiner Umsetzung 1993 kaum Prüferinnen zu finden. Aber - Frauen in Leitungsfunktionen? Daran mangelte es im AfEP wie im DPA! Und - Maßnahmen oder Einrichtungen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie? Fehlanzeige!
DPMA:Und heute?
Heidi Seidel:Seit der ersten offiziellen Wahl einer Frauenbeauftragten im DPMA im Jahr 1995 (1994 wurde der öffentliche Dienst per Gesetz verpflichtet, Frauenbeauftragte zu bestellen) hat sich doch Einiges getan in Sachen Gleichstellung. Dafür habe ich mich als gewählte stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte von 1995 bis 2011 aktiv und unerschrocken eingesetzt und mich - ganz privat - mitunter bei dem Gedanken ertappt: "Wie gut, dass ich damals im AfEP bleiben musste."
Stand: 18.06.2024
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